Medienkultur ist, neben vielem anderen, bis heute immer noch zum großen Teil Schriftkultur. Die Abgrenzung von Geschichte und Vorgeschichte wird mit dem Anfang von Schrift gleichgesetzt. Wann aber fängt Schrift an? Und was ist überhaupt Schrift? Diesen Fragen werden wir sowohl historisch-geographisch als auch theoretisch-systematisch auf den Grund gehen, indem wir Konzeptionen von Schrift und Schriftlichkeit in verschiedene disziplinäre Fragestellungen einrahmen.
Aus linguistischer Sicht werden wir Schrift im Spannungsfeld zwischen Repräsentation des Begriffs und Repräsentation von (gesprochener) Sprache betrachten (Saussure). Aus philosophischer Sicht werden wir der Frage nachgehen, ob es eine Eigenleistung der Schrift außerhalb ihrer Praktik des Sekundären gibt (Derrida). Im Rahmen einer medienästhetischen Fragestellung werden wir Schrift nach ihrer auditiven und ihrer visuellen Dimension befragen und untersuchen, wie sich Schrift zu anderen medialen Artikulationsmodi verhält, wann eine Kritzelei oder ein Kalligramm aufhören, Bild zu sein und anfangen, Schrift zu werden, oder umgekehrt (Böhm; Neef). Und wir betrachten Schrift technologiehistorisch vor, während und nach den großen historischen Zäsuren, die Buchdruck und Digitaltechnik darstellen (Giesecke). Dabei wird auch der Blick geweitet auf universalgeschichtliche Entwicklungen, so dass neben der lateinischen Schrift und anderen Alphabetschriften auch ideographische und logographische Schriftzeichen in den Fokus rücken. Insgesamt soll anhand eines breiten Spektrums von Beispielen – reichend von der Knotenschrift der Inkas bis zum rätselhaften Diskos von Phaistos, vom urbanen Grafitti bis zum elektronisch erstellten Kassenbon, vom Morsealphabet bis zur Stenographie – der Frage nachgegangen werden, was jeweils unter Schrift verstanden wird. Das Ziel des Seminars besteht darin, die Teilnehmer anhand dieser problemorientierten Fragestellungen für die in den jeweiligen Einzeldisziplinen diskutierten Probleme von Schrift und Schriftlichkeit zu sensibilisieren.
Für die Teilnahme sind Vorkenntnisse hilfreich, aber nicht unbedingt notwendig. Harald Haarmann. 1991. Universalgeschichte der Schrift. Frankfurt/New York: Campus. David R. Olson. 1994. The World on Paper. The Conceptual and Cognitive Implications of Writing and Reading. Cambridge: University Press.