Vor noch nicht allzu langer Zeit war an flämischen Schulen das Sprechen in der Muttersprache untersagt. Das Verbot erstreckte sich bis auf den Pausenhof, und seine Einhaltung wurde von spitzelnden, frankophilen Mitschülern strengstens überwacht. Erst 1930 wurde in Belgien im flämischen in Gent die erste niederländischsprachige Universität gegründet. Ihre Entscheidung fürs Niederländisch sah sich allerdings in Nachwirkung der deutschen Besatzung dem Vorwurf einer pan-germanischen Ideologie ausgesetzt. Dasselbe Deutsch war es, das kurz darauf im babylonischen Sprachengewirr des Konzentrationslagers Buchenwald als alleinige Sprache für die Zensur des Briefverkehrs der Häftlinge vorgesehen war. Nicht verwunderlich, dass Peter Weiß es vorzog, sein berühmtes Duellen zunächst auf Schwedisch und nicht auf Deutsch zu verfassen. Und dass Freud den Umweg über Lacan gehen musste, um in Frankreich gehört zu werden. Dies sind nur einige der Beispiele, anhand derer sich die Vorlesung einem kulturellen Verständnis des Begriffs der Muttersprache in seinem Verhältnis zu nationaler oder „vaterländischer“ Identität anzunähern versucht.
Heute träumt das demokratische Europa mit seiner Sprachenvielfalt vom Universalübersetzer, einem Medium, das jede Sprache in eine andere zu übersetzen vermag, ohne Verlust und ohne Rückzug auf den alle Unterschiede nivellierenden Gebrauch des Englischen. So gesehen erweist sich Europa als Un-Ort, als Dazwischen oder Jenseits der nationalen Räume. Europa wird gewissermaßen im Akt des Übersetzens erzeugt, im dritten Raum zwischen den Nationalsprachen. Die Möglichkeiten, Bedingungen und Probleme eines so gedachten Universalübersetzers zu ergründen, ist das zentrale Ziel dieser Vorlesung.
In der Vorlesung wollen wir der Frage nach dem Annex von muttersprachlicher Identität und vaterländischer Nationalität aus verschiedenen disziplinären Blickwinkeln nachgehen. Aus linguistischer Sicht wollen wir verstehen, wie man s/eine Sprache erwirbt, wie sich Erstspracherwerb von Zweitspracherwerb unterscheidet und welche Rolle dabei Sprachfähigkeit schlechthin spielt. Aus historischer Sicht wollen wir einige ausgewählte Beispiele aus der europäischen Geschichte der unterdrückten Sprachen beleuchten. Und aus kulturkritischer Sicht wollen wir kulturelle Praktiken wie code switching, Kreol, Dialekt und Akzent im Kontext von Kolonialisierung, Internationalisierung und Globalisierung unter die Lupe nehmen. Ausgangspunkt für diese Erkundungen ist dabei eine in den theoretischen Schriften vielerorts diskutierte paradoxe Vorstellung von einer in sich gebrochenen Einsprachigkeit. So etwa bei Jacques Derrida: „ich habe nur eine Sprache, sie ist nicht die meine“, oder bei Walter Benjamin: „Übersetzen ist nicht ein Geschäft zwischen zwei Sprachen, sondern immer eine Arbeit in der eigenen Sprache, an der Einsprachigkeit.“ Insgesamt wird es in der Vorlesung auf den Versuch ankommen, die Idee einer Sprache zu entwickeln, die nicht problemlos mit sich selbst identisch ist.