Abdruck und Spur. Handschrift im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit

Schreiben ist heute eine hochtechnisierte Angelegenheit. Und unsere Schreibgeräte werden immer eigentümlicher. Unsere Manuskripte verfassen wir mit Hilfe eines Textverarbeiters und scrollen sie als Textrollen über den Bildschirm; die Post erledigen wir blitzschnell via e-mail oder SMS, Tagebücher schreiben wir als Weblogs; die Waren auf unseren Einkaufszetteln haken wir per Mausklick ab und hieven sie in virtuelle Einkaufswagen. Unsere Beziehungen bahnen wir nur noch selten an, indem wir Tauben handgeschriebene Liebesgrüße übermitteln lassen; stattdessen verabreden wir uns per Chat, um uns in MUDs und MOOs zu treffen. Dabei verschwindet stets etwas, das mit einem körperlich physischen Duktus zu tun hat. Als deutlichstes Symptom hierfür scheint das ‚Verschwinden‘ der Handschrift zu figurieren.

Handschrift aber, so lautet die These dieses Buches, rechnet immer schon mit ihrer Auslöschung. Denn immer schon hat sie mit dieser Doppelfigur zu tun, immer schon ist sie buchstabierbar, seriell, standardisiert und wiederholbar – wie ein Abdruck – und immer schon ist sie als Linie oder Spur singulär, im somatischen Sinne authentisch und also nicht reproduzierbar. Seit der Urszene des prähistorischen Handabdrucks über die erste Extension der Hand durch den Stilus, der ritzt, und die Feder, die fliegend schreibt, bestand ihre Geste in einer Verzwirnung von Abdruck und Spur, und noch und gerade im zeitalter von technischer und digitaler Reproduzierbarkeit bahnt sich Handschrift ihre Spur neu: Radiert, fotografiert, faksimiliert oder gescannt und immer auch in den prominenten Kulturspeichern der Bibliotheken, Museen und Archive überdauert sie gerade in jenen Regionen, die die (jeweils) letzten Medienwechsel für sich beanspruchen: als Kreidekritzelei im Bildschirmschoner, als bewahrtes Archivdokument, als ausgestelltes Museumsobjekt ebenso wie als lebendige ‚Signatur‘ in Form einer Tätowierung oder als mit Aerosol dahingehauchtes Wand- und Mauerzeichen. Jenseits der Schrift ist diesseits der Schrift.

„Wir können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen.“
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft

„In der Gegenwart haben wir eine Materie […] die keine Spuren mehr hinterlässt, wenn sie nicht gar nur Spuren zieht, indem sie die Spur verliert, so dass kaum etwas von ihr bleibt“
(Jacques Derrida, Feuer und Asche, S. 27)